80 Jahre nach Kriegsende

Guten Morgen,
schön Sie alle wieder hier zu sehen, um der Toten und Leiden von Kriegsopfern zu gedenken.
Gut, dass wir uns dem Vergessen entgegenstellen!

Zu Beginn gilt es – dem heutigen Ablauf entsprechend – Danke zu sagen:
Danke Michael Bierschenk, der uns auch in diesem Jahr wieder musikalisch begleitet, Danke an Patricia Ortmann, heute vertreten durch Peter Kleiner, sowie an die Gemeindeverwaltung für ihre vorbereitende Organisationsarbeit und Gestaltung dieser Feier; Danke an Pfarrer Daniel Schweizer, der hier für geistigen Beistand steht und „last but not least“ Danke Steffen Balser der dafür sorgt, dass uns hier warm ist und der, wie all die Jahre, für unsere freiwillige Feuerwehr spricht.

Heute hören Sie meine letzte Rede als Ortsvorsteher zum Volkstrauertag.
In Zukunft werde ich mich um Wissensweitergabe und um den Gernerationendialog bemühen.
Das ist mein Projekt für die Gemeinschaft, so wie die bisherigen Ortsvorsteher ihre Fußspuren im Dorf hinterlassen haben.

Der Volkstrauertag ist jedes Jahr ein Termin der Reflektion.
Es ist ein Termin, der mich zunehmend mit mehr begreifender Trauer und Sorge erfüllt:
Die Erfahrung, wie schrecklich Krieg ist, ist binnen dreier Generationen verloren gegangen. Wir können uns heute, trotz aller Fernseh- und Kinobilder, nicht mehr vorstellen, wie es ist, von heute auf morgen all seiner Habe, seines Zuhauses beraubt zu sein, nichts zu Essen zu haben, den Verlust von geliebten Menschen oder eigene Verwundungen ertragen zu müssen; vielleicht keine Krankenversorgung zu haben, in Angst um das eigene Überleben auf der Flucht zu sein oder im Ungewissen in einem Keller zu sitzen.

Und doch kommen diese Szenarien vorstellbar wieder auf uns zu:
Einige fürchten inzwischen sogar einen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Nato.
Wir wollen hoffen sehr, dass dieser Kelch an uns vorüber geht, …

aber selbst, wenn wir vom Krieg verschont bleiben, werden wir dem menschgemachten Klimakatastrophen wohl kaum aus dem Weg gehen können: Starkregenereignisse, Überschwemmungen, Tornados, Hitzewellen, Wassermangel. Die allgemeinen Wetteränderungen bedingen einen Wandel in der Landwirtschaft und Nahrungsproduktion, gesellschaftliche Überalterung und Migration, all das kann uns und nachfolgende Generationen
in sehr ähnliche Situationen bringen.

Wir sollten nicht länger die Augen vor diesen Entwicklungen verschließen.

Nur wenn jeder ein kleinwenig beiträgt und wir wieder enger zusammenstehen,
werden wir mit den Herausforderungen klarkommen können.

2019 stand ich zum ersten Male noch unsicher hier und vertrat den damaligen Ortsvorsteher Dieter Synowszik.
Schon damals waren neben der Erinnerung auch Zukunftsängste Thema: Klimawandel, Globalisierung, Urbanisierung, Überbevölkerung, Migration und Egoismus, die zunehmende Spaltung in den Gesellschaften, der demagogische Populismus und nationalistische Politik – als ein weltweit zu beobachtendes Phänomen.

2020 hatte das Corona-Virus bzw. die Angst davor das Land im Griff. Das social distancing verstärkte sich und ließ ernste Auswirkungen erkennen.

2021 konnten wir uns wieder treffen. Inzwischen waren 7 Menschen in Biebertal „an oder mit Corona“ gestorben.  
In meiner Rede erinnerte ich an den Bombenabwurf am 14. März 1945 auf Bieber und am 27. März auf Frankenbach und fragte mich, ob wir als Art rechtzeitig begreifen werden, dass wir alle im gleichen kleinen Boot sitzen?

2022 begann die russische Spezialoperation in der Ukraine.
Zwar gab es nach den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts immerzu Kriege, doch Hierzulande schienen uns – bis dahin – all die Kriege weit weg.
Nun erreichten uns die Auswirkungen dieses neuerlichen Krieges in Europa
mit Energieproblemen, Kostensteigerungen und Geldentwertung, Rezession, einem politischen Kurswechsel, neuen Aufrüstungsbemühungen und der gefühlten Bedrohung unserer Komfortzone.

2023 war das Jahr des Terrorangriffes der Hamas auf Israel und der Beginn des Gaza-Desasters.
Hier fragten wir uns „Was ist Frieden?“
Ist das definitionsgemäß ein Zustand, in dem auftretenden Differenzen auf der Basis von Einigungsbereitschaft, Recht, Gesetz und ohne Gewalt begegnet wird?
Nein, wir mussten uns eingestehen: kein Krieg, ist nicht mehr gleichbedeutend mit Frieden.
Längst herrscht, neben den heißen Kriegen mit Bombenterror und Armeen, auch bei uns ein stiller, hybrider Kriegszustand mittels medialer Desinformation, Ausspähung von Zielen, Sabotage und Cyberangriffen.

2024 warfen wir hier einen Blick auf den Kampf der Systeme um die Weltherrschaft in der äußeren Welt – und in der inneren Welt menschlicher Gedanken, wo Kriege zunächst mit Worten beginnen.  

2025 feierten wir 35 Jahre wiedervereinigtes Deutschland.
Der friedliche Wandel in Osteuropa ging in die Geschichtsbücher ein.
Vor lauter Euphorie wurde bereits über das „Ende der Geschichte“ spekuliert, indem sich die Demokratie nunmehr auf der gesamten Welt ausbreiten würde.
Ein Blick auf den blutigen Globus belehrt uns leider längst eines Besseren.

Heute schauen wir auch auf 80 Jahre nach dem Weltkriegsende und erleben, wie ein Zurück in eine nationalistische Zukunft wieder hoffähig wird.
Wir leben inzwischen in einer Welt, in der sich rechtsextreme Kräfte nicht mehr länger nur am gesellschaftlichen Rand, sondern in der Mitte der politischen Landschaft etablieren. Mit antidemokratischen Positionen wird die Hoffnung auf starke, phantasiert wissende Elternfiguren geschürt, die es richten und alles wieder gut werden lassen. Fatalerweise gewinnen derartig unterwürfige kindliche Vorstellungen (Erinnerungen?) in der Breite der Gesellschaft stetig an Zustimmung.
Wir sollten uns unbedingt vor Augen halten, dass nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 der Umbau des Staates binnen weniger Wochen erfolgte.
Zwar ist die reale Not heute weit entfernt von den Lebensverhältnissen nach dem 1. Weltkrieg 1918 und der Wirtschaftskrise 1929, doch die permanenten Erzählungen mit angstmachenden Inhalten haben eine vergleichbare Wirkung, da sie in Gehirn an der gleichen Stelle alarmierend wirken und vernünftiges Denken minimieren.

Flucht-, Angriff oder Erstarren sind die biologisch vorgegebenen, reflexhaften, nicht rationalen Reaktionen, die seit Jahrtausenden in Situationen, in denen man sich bedroht fühlt, das Überleben sichern. Lebensbedroht hat man keine Zeit für langes Grübeln!
Für das Auslösen dieser Reaktionen braucht es jedoch keine echte Bedrohung, es reicht die Stimmung, sich bedroht zu fühlen.

Das ist gängige Herrschaftspolitik seit Jahrhunderten.
Genau damit arbeiten Populisten und die Medienkonzerne verdienen an aufregenden Storys und eskalierenden Algorithmen.

Da der ernsthafte, echte Austausch zwischen den realen Menschen immer weiter zurückgeht und immer mehr Menschen in ihren Medienblasen bleiben, sind wir, trotz aller Informationsmöglichkeiten, in der Flut der Angebote wieder zurück auf dem Level des Glaubens.
So verschiebt sich allmählich die Wahrnehmung – und es entsteht eine erzählte Wirklichkeitsvorstellung, die keines Bezuges zur erfahrenen und geprüften Realität bedarf.
Im eigenen Gehirn gibt es keine Instanz, die Fake von Fakt unterscheiden kann.
Um herauszufinden, was ist, brauchen wir die mitdiskutierenden anderen und deren sich, von unserer unterscheidenden Perspektiven und Wahrnehmungen.

So funktioniert auch Wissenschaft,  
die ein tragfähiges Fundament unserer Erkenntnisse bildet – die von Populisten angegriffen wird.
Gerade in der Corona-Krise konnten wir Wissenschaft im Prozess miterleben.
Dabei ist allerdings in breiten Bevölkerungsteilen nicht Vertrauen, sondern Verunsicherung gewachsen – und damit die Sehnsucht nach Kontrolle und Rettern, die Stabilität und Sicherheit wieder herstellen.
Viele scheinen nicht verstanden zu sein, dass Befunde, Erkenntnisse und Lehrmeinungen keine endgültigen Wahrheiten sind, sondern Thesen, die nur so lange gelten, bis sie widerlegt werden und neue, bessere Erkenntnisse zur Basis des Handelns werden.

Als der AfD Kreisverband Gießen am 24.10. zum „Bürgerdialog“ in Biebertal eingeladen hatte, sah man am Bürgerhaus in Bieber Transparente mit
„Kein Platz für Nazis – nirgendwo!“, „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“, „Vielfalt, statt völkischer Wahn“ oder „Biebertal in Vielfalt einig“.

Damit sollten all die Geschichtsvergessenen an die Kriegsopfer, Massaker und Genozide erinnert werden, die dem Größenwahn und Machterhalt von Diktaturen, vermeintlichen Staatsinteressen, Glaubenskriegen und politischen Ideologien zum Opfer fielen.
Gerade – über die Zeit betrachtete – die Sinnlosigkeit all dieser blutigen Konflikte muss eigentlich betroffen machen.

Und genau darum dürfen wir nicht aufhören zu erinnern und emotional angefasst zu bleiben.
Denn jeder Krieg ist eine Niederlage des menschlichen Geistes.

Jeden Tag erfinden wir unsere Realität – zusammen mit den anderen – neu und entscheiden, ob Egoismus oder unser ursprünglicher Altruismus, ob Hass oder die Liebe triumphiert.

Vielen Dank! – Dr. Alfons Lindemann

Foto: Lindemann

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert